Ahnungen
"Lange nicht gehört, Luisa."
"Hm, ja, wir haben alle Hände voll zu tun, um dem allmählichen Zerfall des Schiffes hinterher zu hetzen."
"'Wir'? Heißt das, Sie haben inzwischen ein Reparaturteam?"
"Ha, von wegen! Ich habe mir nur angewöhnt, von mir im Plural zu sprechen, um die Passagiere zu beruhigen. Irgendwie hat sich herumgesprochen, dass das Schiff morsch ist und ich seine Sicherheit verantworte."
"Der Zustand des Schiffes sollte eigentlich top secret sein, insbesondere wenn er schlecht ist. Meinen Sie, da hat jemand geplaudert oder haben die Passagiere ein gutes Gespür?"
"Gespür. Der Großtteil der Besatzung weiß nicht, wie es um uns steht, und sie wollen es vermutlich auch nicht wissen."
"Und Ihr Käptn?"
"Bekommt wöchentlich einen Bericht mit Status rot."
"Und?"
"Reagiert nicht drauf."
"Sie wissen ja..."
"... dass Berichte oft nicht gelesen werden. Ich weiß. Darum ersuche ich regelmäßig um einen Termin, bei dem ich die dringendsten Punkte ansprechen und Budget für Reparaturen beantragen kann. Ich allein kann nur das tun, was ich mit meinen zwei Händen innerhalb der Arbeitszeit schaffen kann. Also, ich meine die 80 Stunden, die mir zur Verfügung stehen."
"Und was machen Sie mit dem Rest des Tages?"
"Verplempern, Chef. Warum soll ich die einzige sein, die ihre letzten Lebenstage rein mit Arbeit verbringt?"
"Auch wieder wahr. Und was meint der Kapitän? Immer noch lebensmüde?"
"Alle drei Wochen geruht er mich zu empfangen, ansonsten ist er 'zu beschäftigt'. Ich darf mir dann anhören, dass mein Genörgel ihn langweilt und er mir den Status rot sowieso nicht mehr glaubt. Schließlich berichte das schon seit Monaten und es ist immer noch nichts passiert. Natürlich sagte ich ihm, dass wenn erstmal etwas passiert, uns nicht mal mehr die Zeit bleiben wird, um 'Hoppla!' zu rufen geschweige denn Reparaturen durchzuführen."
"Und was sagen lebensmüde Zivilisten in einem solchen Fall?"
"Solche Wörter gehören nicht zu meinem Wortschatz."
"Und die wären?"
"'Alte Jungfer' ist noch einer der harmloseren Begriffe. Also persönliche Beleidigungen."
"Führen Sie Buch darüber?"
"Hm, also wenn ich das täte, würde ich es nicht in einem aufgezeichneten Telefongespräch aufgezeichnet wissen."
"Vielleicht gerade doch? Es macht Druck."
"Echt? Noch jemandem außer mir?"
"Vielleicht sollte mal etwas passieren. Nur ein kleiner Unfall, der aber spektakulär ausfällt und zum Nachdenken anregt. Oder Sie provozieren einen Aufstand er Passagiere."
"Wird genauso geahndet wie eine Meuterei der Besatzung anzustiften. Ich habe schon im Gesetzbuch nachgelesen."
"Seltsam, wie der Mensch sich an alles gewöhnen kann, einschließlich hochgradiger Lebensgefahr."
"Einige Bullaugen sind undicht. Der ständige Verlust an Sauerstoff ist irreversibel und unsere Reise lang. Wenn nun einer der Lagerräume plötzlich einen Unfall hätte, die brüchige Dichtung plötzlich reißen würde... Sie ist mindestens hundert Jahre alt, hätte schon vor Jahrzehnten erneuert werden müssen. Es wäre ein glücklicher Zufall, wenn zu diesem Zeitpunkt der Lagerraum leer wäre wegen Großputz oder Inventur, damit wir keine Lebensmittel oder Werkzeuge verlieren. Aber wenn dann so ein Bullauge raus ins Weltall geschleudert wird, die Zwischentür zum Gang sich nach außen biegt, die Warnlampen blinken und Sirenen los heulen, dann wird das mehr Aufmerksamkeit erregen als mein dreiwöchentliches Gejammere und Geheule beim Käptn. Ich denke, die Lagerraumtüren würden stand halten, sind genau dafür ja ausgelegt. Und frisch von mir gewartet."
"Riskant aber vermutlich wirkungsvoll."
"Der Lagerverwalter erwähnte neulich eine Inventur. Er glaubt, dass in der Socken- und Schuhe-Abteilung eventuell bisher falsch abgerechnet wurde. Ist nur ein recht kleiner Lagerraum mit einer stabilen Tür und einem der miesesten Bullaugen von allen. Falls es eines rausschlägt, dann vermutlich dieses."
"Ganz schön tollkühn, aber ich traue es Ihnen zu."
"Wir haben an Bord einen Oberst im Ruhestand. Mit dem bin ich nicht nur auf gleicher Wellenlänge, sondern er speist auch am Kapitänstisch. Ich denke, ich sollte mit ihm reden, bevor es hier einen Unfall gibt."
"Vielleicht kann er ihnen verhindern."
"Eher nicht, aber... naja, Taktik... Echt, Landwehr, ich weiß nicht mehr, was ich sonst noch tun kann. Fakten interessieren diese Suffnase von Kapitän nicht."
"Sie wissen doch, dass die Forschung herausgefunden hat: Fakten sind den Menschen zu abstrakt, sie sagen ihnen gar nichts. Außer sie gingen bei mir in die Lehre."
"Ich habe dem Kapitän genug von Unfällen erzählt und Präzenzfällen, aber leider ist ihm alles egal. Die meiste Zeit ist er nicht mal ansprechbar."
"Wenn ein Kapitän sein Amt nicht erfüllt, kann man ihn absetzen. Genau dafür gibt es eine kompetente Führungsriege."
Luisa lachte. "Landwehr, das ist hier ein ziviles Schiff. Hier gibt es nur einen, der die Kompetenz als Kapitän hat."
"Gibt´s dafür nicht auch Fernkurse? Und was ist mit dem Oberst?"
"Beides positiv. Aber mir das zu heiß. Bin hier eine Außenseiterin und das ist noch gelinde formuliert."
"Feige Sau!"
"Ich hab die Wahl zwischen zwei Todesarten."
"Tod durch Feigheit..."
"Lassen Sie´s gut sein. Ich versuche es erstmal noch auf die diplomatische Tour."
Nun war es Landwehr der lachte. "Eine Explosion nennen Sie eine sanfte Tour?"
"Vergleichsweise."
"Na, ist Ihr Leben. Wollen Sie noch was Wichtiges sagen? Dies könnte unser letztes Telefonat sein."
"Das kann es immer. Ich wünsche Ihnen weiterhin nen guten Fluch."
"Haha, der alte Witz. Hatte ich schon fast vergessen. Dann mal auch nen guten Fluch! Und passen Sie gut auf sich auf!"
"Hm, ja, wir haben alle Hände voll zu tun, um dem allmählichen Zerfall des Schiffes hinterher zu hetzen."
"'Wir'? Heißt das, Sie haben inzwischen ein Reparaturteam?"
"Ha, von wegen! Ich habe mir nur angewöhnt, von mir im Plural zu sprechen, um die Passagiere zu beruhigen. Irgendwie hat sich herumgesprochen, dass das Schiff morsch ist und ich seine Sicherheit verantworte."
"Der Zustand des Schiffes sollte eigentlich top secret sein, insbesondere wenn er schlecht ist. Meinen Sie, da hat jemand geplaudert oder haben die Passagiere ein gutes Gespür?"
"Gespür. Der Großtteil der Besatzung weiß nicht, wie es um uns steht, und sie wollen es vermutlich auch nicht wissen."
"Und Ihr Käptn?"
"Bekommt wöchentlich einen Bericht mit Status rot."
"Und?"
"Reagiert nicht drauf."
"Sie wissen ja..."
"... dass Berichte oft nicht gelesen werden. Ich weiß. Darum ersuche ich regelmäßig um einen Termin, bei dem ich die dringendsten Punkte ansprechen und Budget für Reparaturen beantragen kann. Ich allein kann nur das tun, was ich mit meinen zwei Händen innerhalb der Arbeitszeit schaffen kann. Also, ich meine die 80 Stunden, die mir zur Verfügung stehen."
"Und was machen Sie mit dem Rest des Tages?"
"Verplempern, Chef. Warum soll ich die einzige sein, die ihre letzten Lebenstage rein mit Arbeit verbringt?"
"Auch wieder wahr. Und was meint der Kapitän? Immer noch lebensmüde?"
"Alle drei Wochen geruht er mich zu empfangen, ansonsten ist er 'zu beschäftigt'. Ich darf mir dann anhören, dass mein Genörgel ihn langweilt und er mir den Status rot sowieso nicht mehr glaubt. Schließlich berichte das schon seit Monaten und es ist immer noch nichts passiert. Natürlich sagte ich ihm, dass wenn erstmal etwas passiert, uns nicht mal mehr die Zeit bleiben wird, um 'Hoppla!' zu rufen geschweige denn Reparaturen durchzuführen."
"Und was sagen lebensmüde Zivilisten in einem solchen Fall?"
"Solche Wörter gehören nicht zu meinem Wortschatz."
"Und die wären?"
"'Alte Jungfer' ist noch einer der harmloseren Begriffe. Also persönliche Beleidigungen."
"Führen Sie Buch darüber?"
"Hm, also wenn ich das täte, würde ich es nicht in einem aufgezeichneten Telefongespräch aufgezeichnet wissen."
"Vielleicht gerade doch? Es macht Druck."
"Echt? Noch jemandem außer mir?"
"Vielleicht sollte mal etwas passieren. Nur ein kleiner Unfall, der aber spektakulär ausfällt und zum Nachdenken anregt. Oder Sie provozieren einen Aufstand er Passagiere."
"Wird genauso geahndet wie eine Meuterei der Besatzung anzustiften. Ich habe schon im Gesetzbuch nachgelesen."
"Seltsam, wie der Mensch sich an alles gewöhnen kann, einschließlich hochgradiger Lebensgefahr."
"Einige Bullaugen sind undicht. Der ständige Verlust an Sauerstoff ist irreversibel und unsere Reise lang. Wenn nun einer der Lagerräume plötzlich einen Unfall hätte, die brüchige Dichtung plötzlich reißen würde... Sie ist mindestens hundert Jahre alt, hätte schon vor Jahrzehnten erneuert werden müssen. Es wäre ein glücklicher Zufall, wenn zu diesem Zeitpunkt der Lagerraum leer wäre wegen Großputz oder Inventur, damit wir keine Lebensmittel oder Werkzeuge verlieren. Aber wenn dann so ein Bullauge raus ins Weltall geschleudert wird, die Zwischentür zum Gang sich nach außen biegt, die Warnlampen blinken und Sirenen los heulen, dann wird das mehr Aufmerksamkeit erregen als mein dreiwöchentliches Gejammere und Geheule beim Käptn. Ich denke, die Lagerraumtüren würden stand halten, sind genau dafür ja ausgelegt. Und frisch von mir gewartet."
"Riskant aber vermutlich wirkungsvoll."
"Der Lagerverwalter erwähnte neulich eine Inventur. Er glaubt, dass in der Socken- und Schuhe-Abteilung eventuell bisher falsch abgerechnet wurde. Ist nur ein recht kleiner Lagerraum mit einer stabilen Tür und einem der miesesten Bullaugen von allen. Falls es eines rausschlägt, dann vermutlich dieses."
"Ganz schön tollkühn, aber ich traue es Ihnen zu."
"Wir haben an Bord einen Oberst im Ruhestand. Mit dem bin ich nicht nur auf gleicher Wellenlänge, sondern er speist auch am Kapitänstisch. Ich denke, ich sollte mit ihm reden, bevor es hier einen Unfall gibt."
"Vielleicht kann er ihnen verhindern."
"Eher nicht, aber... naja, Taktik... Echt, Landwehr, ich weiß nicht mehr, was ich sonst noch tun kann. Fakten interessieren diese Suffnase von Kapitän nicht."
"Sie wissen doch, dass die Forschung herausgefunden hat: Fakten sind den Menschen zu abstrakt, sie sagen ihnen gar nichts. Außer sie gingen bei mir in die Lehre."
"Ich habe dem Kapitän genug von Unfällen erzählt und Präzenzfällen, aber leider ist ihm alles egal. Die meiste Zeit ist er nicht mal ansprechbar."
"Wenn ein Kapitän sein Amt nicht erfüllt, kann man ihn absetzen. Genau dafür gibt es eine kompetente Führungsriege."
Luisa lachte. "Landwehr, das ist hier ein ziviles Schiff. Hier gibt es nur einen, der die Kompetenz als Kapitän hat."
"Gibt´s dafür nicht auch Fernkurse? Und was ist mit dem Oberst?"
"Beides positiv. Aber mir das zu heiß. Bin hier eine Außenseiterin und das ist noch gelinde formuliert."
"Feige Sau!"
"Ich hab die Wahl zwischen zwei Todesarten."
"Tod durch Feigheit..."
"Lassen Sie´s gut sein. Ich versuche es erstmal noch auf die diplomatische Tour."
Nun war es Landwehr der lachte. "Eine Explosion nennen Sie eine sanfte Tour?"
"Vergleichsweise."
"Na, ist Ihr Leben. Wollen Sie noch was Wichtiges sagen? Dies könnte unser letztes Telefonat sein."
"Das kann es immer. Ich wünsche Ihnen weiterhin nen guten Fluch."
"Haha, der alte Witz. Hatte ich schon fast vergessen. Dann mal auch nen guten Fluch! Und passen Sie gut auf sich auf!"
Geschichten-Manufaktur - 30. Mai, 17:06