Mittwoch, 3. März 2010

Coaching zum Zweiten

Ich habe mir das noch etwas durch den Kopf gehen lassen. Abgesehen von meiner persönlichen, akuten Betroffenheit als jemand, die ständig mit dem Coaching-Virus angehustet wird, finde ich es grundsätzlich schon lange bedenklich, was sich da tut. Ich bin ja sonst immer die letzte, die anerkennt, dass Dinge sich tatsächlich zum Schlechteren hin ändern, weil ich die Schwarzseherei nicht teilen möchte. Aber ich beobachte doch im letzten Jahrzehnt einen ganz deutlichen Trend zu einer "Wir sind Jury" Kultur. Der Keim dazu war in der deutschen Besserwisserkultur sowieso schon lange angelegt, aber durch Casting-Shows, Deutschland sucht den Superstar/ Das Supermodel/ Was-auch-immer, Kommunikationskurse und andere Krankheiten wurde die breite Masse infiziert. Jeder hält sich für eine kompetente Jury. Besserwisser zu sein ist nicht mehr peinlich, sondern hip. Man tut doch anderen etwas Gutes, indem man sie kritisiert und auf ihre Fehler hinweist! Schließlich können diese armen unwissenden Trottel, die nicht bei Guru XY den Kurs besucht haben, ihr eigenes Fremdbild gar nicht beurteilen. Also muss man es ihnen sagen.

Den Trend sieht man nicht nur im Fernsehprogramm, sondern auch ganz konkret bei der eigenen Arbeit. Früher haben mich wirklich nur Lehrere und Vorgesetzte oder auch ältere Kollegen bewertet bzw. ihre Bewertung mir ins Gesicht gesagt. Das ist OK, dazu sind sie da, da stimmen die Rollen. Selbst wenn der andere sich irrt, ist es trotzdem hilfreich, über den Irrtum Bescheid zu wissen, denn am Ende bekomme ich von ihm ein Zeugnis und wenn das gut sein soll, sollte ich Missverständnisse möglichst bald ausräumen. Da ich bei jeder meiner Tätigkeiten nur ein oder zwei solcher Vorgesetzten (Coaches) hatte, war es auch überschaubar und machbar, ihre Anforderungen zu erfüllen. Aber inzwischen sind die Bewertungssysteme ja auch umgekehrt gerichtet. Publikum bewertet Künstler, Studenten und Schüler bewerten ihre Lehrer, Mitarbeiter bewerten ihren Chef. Nicht nur innerhalb formaler und anonymer Bewertungsrunden alle zwei Jahre, sondern täglich. Als Vorgesetzter/ Lehrer ist man einem ständigen Trommelfeuer inkompetenter Kritik ausgesetzt von Leuten, die meine Arbeit bei weitem nicht so gut selbst machen könnten wie ich sie tue. Das Klima ist schärfer geworden. Wie es in den Schulen zugeht, kann ich nicht beurteilen, aber im universitären Feld ist es übel. Und zwar international. Wenn ich mich wage, vorne hin zu stehen und etwas zu lehren, dann werde ich gnadenlos zerlegt. Darum etwas von mir zu lernen, geht es gar nicht, sondern darum, meine Berechtigung dies zu tun in Frage zu stellen. Und eine der wichtigsten Fragen ist: "Müssen wir das bei der Prüfung auswendig wissen oder erzählen Sie uns das einfach nur so?"

So wird man also von Möchtegern-Coaches ständig durch formale und informelle Kritik bewertet. Ich empfinde Bewertung als einen brutalen Akt. Knigge sieht das bestimmt genauso. Selbst Lob ist arrogant, weil es den Lobenden über den Gelobten stellt. Sprenger ("Mythos Motivation") sagt so richtig, Loben wirke als „Herrschaftszynismus“. Nach meinem Empfinden lenkt dieses Bewerten auch ab vom eigentlichen Sinn des Vortrags. Ich möchte mein Wissen und auch meine Begeisterung mit dem Publikum teilen, stoße aber auf eine Mauer aus misstrauischen Gesichtern. Selbst die in der Wissenschaft geübte konstruktiv-kritische Diskussion neuer Ideen ist harmlos dagegen, denn diese Diskussion bewertet nur den Inhalt des Vortrags und nicht den Vortragenden als Person. Jeder noch so gute Wissenschaftler kann mal eine schlechte Idee haben, die entweder nicht funktioniert, zweifelhaft ausgeführt wurde oder schlichtweg nicht innovativ ist. Die Kritik der anderen Wissenschaftler - insbesondere der Konkurrenten! - weist frühzeitig auf Schwachstellen der Idee oder Durchführung hin und erlaubt damit die Besserung. Genauso wie Buchkritik ja auch - meiner Meinung nach - nicht den Autor vernichten soll, sondern die Schwachstellen seiner Werke aufzeigen, um seine Weiterentwicklung anzustacheln. Ständiges Lob macht träge. Während in der Wissenschaft konstruktive Formulierung von Kritik nicht in Mode ist (diese Übersetzungsleistung muss der Kritisierte selbst erbringen) kultuvieren immerhin die Literaten die Kunst der konstruktiven Kritik. Das alles kenne ich und verstehe seine Funktion. Aber was ich in den letzten Jahren erlebt habe, geht über das hinaus.

Und mit diesem feinfühligen (zu feinfühligen? krankhaft feinfühligen?) Unterscheiden verschiedener Arten von Kritik (konstruktiv oder destruktiv, von unten oder von oben, qualifiziert oder nicht) biete ich jetzt natürlich die volle Breitseite. Wenn ich tatsächlich meine, mehr und härtere Kritik zu empfangen, dann - so sagt die Philosophie des Coachings - könne das nur an mir liegen. Entweder sei ich tatsächlich schlechter geworden - und brauche Coaching. Oder ich sei empfindlicher geworden, mein Selbstbewusstsein habe also gelitten - und ich brauche Coaching.

Ich wage trotzdem, diese meine Gedanken zu veröffentlichen, weil ich ganz sicher bin, dass mit mir alles stimmt. Natürlich habe ich mal einen schlechten Tag und dann reagiert das Publikum ganz empfindlich auf mich. BIn ich selbst traurig oder nervös, lacht kein Mensch über meine Witze. Schon klar. Das sehe ich. Und ich bin definitiv empfindlicher geworden, weil ich sehr viel mit Menschen arbeite und mein Feingefühl sich sehr gut entwickelt. Mein Bauchgefühl hat immer Recht, darauf vertraue ich. Irgendetwas stimmt nicht da draußen.

Ich möchte doch - in diesem einsamen Blog - trotzdem dafür plädieren, dass die Menschen sich mehr Gedanken darüber machen, wen sie in welcher Form und mit welchem Recht kritisieren. Ein Kommunikationstrainer, mit dem ich lange gemailt habe, hatte als seine wichtigste Botschaft an seine Kursteilnehmer: "Nicht werten!" Wie richtig er damit liegt! Wenn man mal beobachtet, wer einen zum Wahnsinn oder zumindest zur Aggression treibt, dann sind es doch die ewigen Nörgler, die einen ständig belehren, ohne dass man sie um Rat gefragt hätte. Aber sie begreifen das nicht, sondern schieben die Schuld für die heftigen Reaktionen auf den Kritisierten. Mit dem stimme etwas nicht, denken - und sagen! - sie und schlagen damit gleich noch ein zweites Mal voll zu.

Die simple Coaching-Message "Ich bin OK, Du bist OK", scheint irgendwo im Wust der Checklisten unterzugehen oder findet keinen fruchtbaren Boden. Warum eigentlich nicht???

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